Unter dem normativen Anspruch der Inklusion. Rekonstruktive Perspektiven und Zugänge im Vergleich

Organisation: David Brehme, Matthias Olk, Rosa Reinisch und Lena Peukert;
Diskutantin: Prof. Dr. Anna Moldenhauer

Fokus dieser Arbeitsgruppe ist die Aushandlung von Normen, Normativität und Normalität und ein damit zusammenhängender Anspruch an die pädagogische Praxis. Dabei blicken zwei der Beiträge vor dem Hintergrund dieses normativen Anspruchs auf schulische Inklusion im Allgemeinen (Brehme, Olk), während zwei weitere Beiträge den besonderen normativen Anspruch der Kooperation von/zwischen Pädagog*innen, der im Kontext schulischer Inklusion formuliert wird, in den Blick nehmen (Reinisch, Peukert). Der geteilte Ausgangspunkt wird in den Einzelbeiträgen aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven bearbeitet. Ziel der Arbeitsgruppe ist es, über den Vergleich theoretischer, methodo- logischer sowie empirischer Betrachtungen aus den Perspektiven verschiedener rekonstruk- tiver Forschungsansätze mit unterschiedlichen Datengrundlagen die hervortretenden Potenziale und Grenzen des jeweiligen Ansatzes im Einzelnen und einer rekonstruktiven Inklusionsforschung im Allgemeinen in den Blick zu nehmen. Zentrale Fragestellung ist dabei, wie und mit welchen empirischen Ergebnissen verschiedene theoretische, metho- dische und methodologische Zugänge qualitativ-rekonstruktiver Forschung den normativen Anspruch der Inklusion ausdeuten und wie die Unterschiedlichkeit der Zugänge auf den Gegenstand selbst wirkt.

Seinen Platz finden. Normalität(en) des Beginns der Sekundarstufe 1 an inklusiven Schulen
David Brehme, Humboldt-Universität zu Berlin

Inklusive Schulen der Sekundarstufe 1 befinden sich im Spannungsfeld zwischen gesell- schaftlicher Funktion von Selektion und Allokation (Fend 2009) und vergemeinschaftenden Entwürfen inklusiver Bildung. Schulen sollen dem inklusiven Anspruch gerecht werden, die Teilhabe aller Schüler*innen an Bildung zu gewährleisten. Aus theoretisch-normativer Perspektive ist damit in der Inklusionspädagogik der Anspruch an Schulen verbunden, an Stelle eines kompetitiven Individualismus eine Schulkultur des Belonging zu schaffen (Slee 2019). Aus normalismustheoretischer Sicht bedeutet dies eine transnormalistische Erwei- terung der Kategorie Gemeinschaft: Es ist normal, dass alle anders anders sind – alle gehören dazu (Lingenhauber 2008). Normalität als fragile und doch stabil-erlebte Konstruk- tion zu verstehen, die immer wieder (re-)produziert werden muss, wirft die Frage auf: Welche Normalität(en) produzieren inklusions-orientierte Schulen der Sekundarstufe 1 in Bezug auf Ideen und Praxen der Zugehörigkeit, der Gemeinschaft? Anhand ausgewählter Beispiele ethnografischer Feldprotokolle des Beginns des Schuljahres in Klassen an inklusiven Sekundarstufen diskutiert der Beitrag die Chancen und Grenzen verschiedener theoretischer Zugriffe auf Normalität als sozialer Konstruktion. Konkret: Inwiefern lassen sich Goffmanns & Links konkurrierende Verständnisse von Normalität produktiv machen, um zu erklären, wie im Schul- und Unterrichtsalltag mit Inklusionsanspruch, Schüler*innen „ihren Platz finden“?

Wahrgenommene Normen als Zwänge und als Möglichkeiten im Sprechen von Akteur*innen ‚inklusiver Grundschulen‘
Matthias Olk, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Sinne der „ambitionierten Schule“ (Reckwitz 2020, S. 333f) bezeichnen sich viele Grundschulen der spätmodernen Gegenwart als „inklusiv“. Die Akteur*innen dieser Schulen agieren in ihrer Alltagspraxis unter einem vagen Anspruch, der mit bisweilen kontingenten Normen und Legitimierungen verknüpft ist (vgl. Moser 2017). Doch welche Normen, die im Sinne der Praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack 2017) als über ihren mehr oder weniger explizierbaren Zwang charakterisiert werden können, nehmen die Akteur*innen dieser sogenannten ‚inklusiven Grundschulen‘ selbst wahr? Wie bearbeiten sie die noto- rischen Spannungen zwischen diesen Normen und ihren habituellen Orientierungen? Anhand ausgewählter Passagen empirischen Materials soll in diesem Vortrag diesen Fragen nachgegangen werden. Hierbei soll auch die methodologische Frage mitbedacht und mit Blick auf das Datenmaterial beantwortet werden, wie aus der Perspektive der Praxeo- logischen Wissenssoziologie als Meta-Methodologie der Dokumentarischen Methode (ebd. sowie Bohnsack 2014) über die Ebene des Orientierungsschemas hinaus auf soziale Normen und Normativität geblickt werden kann und wie praxeologische Perspektiven, die Normen als Praktiken der Hervorbringung von Möglichkeiten betrachten (z.B. Möllers 2018), dafür nutzbar gemacht werden können. Die Datengrundlage des Beitrags wurde mit autobio- graphisch-narrativen Interviews (Schütze 1983) mit pädagogisch Tätigen an Grundschulen erhoben, die den Anspruch haben, ‚inklusive Grundschulen‘ zu sein.

Konzeptpapiere als Ausdrucksgestalt der Bearbeitung komplexer Kooperationsanforderungen [entfällt, wir bitten um Ihr Verständnis]
Rosa Reinisch, Georg-August-Universität Göttingen

Im Rahmen des eher positiv konnotierten Diskurses zu ‚Kooperation‘ in der Schule wird angenommen, dass die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Pädagog*innen zur Bewältigung der Aufgaben der Anforderungen des Anspruchs inklusiver Schulen beiträgt. Zugleich wird dort die Zusammenarbeit zwischen Sonderpädagog*innen und Regelschul- lehrer*innen zumeist als wenig gehaltvoll beschrieben (z.B. Fussangel und Gräsel 2012). Aus einer weniger normativen Perspektive stellt sich bezüglich Kooperation eher die Frage, wie sich die Akteur*innen zueinander und zum Gegenstand ins Verhältnis setzen (z.B. Kunze und Silkenbeumer 2018), wie Anforderungen und Ansprüche von Inklusion prozessiert werden. Um die an die schulischen Akteur*innen herangetragenen Kooperationsanforderungen zu beleuchten, fokussiere ich in meinem Beitrag Ausdrucksgestalten, die sich in schulischen Dokumenten zeigen, in denen sich pädagogische Akteur*innen mit den an sie gestellten Kooperationsanforderungen auseinandersetzen. Die Ergebnisse stammen aus dem Forsch- ungsprojekt GAST („Vom Ganzen und der Summe seiner Teile“. Rekonstruktionen zur Differenzierung professioneller Zuständigkeiten in der schulischen Zusammenarbeit von Lehrkräften, Sozial- und Sonderpädagog*innen), in dem objektiv hermeneutisch untersucht wird, wie pädagogische Zuständigkeiten von den beteiligten Akteur*innen in situ ausgehandelt werden (z.B. Silkenbeumer et al. 2018). Der Vortrag diskutiert Analyse- ergebnisse, die zeigen, wie in der gemeinsamen Arbeit an schulischen Dokumenten den Kooperationserwartungen als komplexen und widersprüchlichen Anforderungen Ausdruck verliehen wird.

Relationierungen des Seins und Sollenseins berufsgruppenübergreifender Zusammenarbeit in inklusiven schulischen Settings
Lena Peukert, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit dem Anspruch an eine inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung sehen sich pädagogische Berufsgruppen mit normativen Anfragen konfrontiert, die sie in ihrem beruflichen Handeln bearbeiten. Diesem Anspruch soll u.a. über die Etablierung von Formen berufsgruppenübergreifender Zusammenarbeit in inklusiven Schulen nachgekommen werden. Dabei ist die programmatische Erwartungshaltung an eine sogenannte multi- professionelle Kooperation in inklusiven schulischen Settings normativ stark aufgeladen und läuft einer vorstrukturierten schulischen Praxis entgegen. Im Verhältnis zwischen programmatischem Anspruch und der eigenlogischen Verfasstheit von Schule – als universalistisch geprägtes Strukturmuster (Wernet 2003) – sowie die daran gebundenen Handlungsroutinen zeigt sich ein Strukturproblem (Bender und Dietrich 2019), welches dem beruflichen Handeln nicht äußerlich bleibt. Durch die Aufforderung zur berufsgruppen- übergreifenden Zusammenarbeit ergibt sich für die beteiligten Akteur*innen ein berufliches Handlungsproblem, welches auf Ebene der professionellen Zuständigkeiten angesiedelt ist und auf struktureller Ebene nicht lösbar ist (Kunze 2016). Aus strukturtheoretische Forschungsperspektive rücken somit Fragen nach der Umgangsweise mit einem solchen Strukturproblem in den Mittelpunkt. Der Beitrag fokussiert also auf die Aushandlung des Seins und des Sollenseins berufsgruppenübergreifender Zusammenarbeit in inklusiven schulischen Settings vor dem Hintergrund der gegebenen Strukturproblematik. Anhand rekonstruierter Deutungsmuster (Oevermann 2001) beteiligter Akteur*innen sollen die durch die programmatischen Ansprüche induzierten Widersprüche in dem Vortrag diskutiert werden.