Teilhabebezogene Erfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigungen in Schule, Beruf und Beratung
Moderation: Prof. Dr. Claudia Becker
„Nein, du brauchst das jetzt größer!“ Erzählungen von Jugendlichen mit Sehschädigung über Teilhabemöglichkeiten in verschiedenen Schulsettings
Anne Bödicker, Phillips-Universität Marburg
Der Beitrag möchte schulische Teilhabeprozesse aus der Perspektive 15 bis 19-Jähriger Jugendlicher mit Sehbeeinträchtigung thematisieren. Denn obwohl das mehrgliedrige deutsche Schulsystem seit der Ratifizierung der UN-BRK im Wandel ist, kann noch immer nicht von einem freien Zugang von Schüler*innen mit Beeinträchtigung zur Regelschule gesprochen werden, Forderung und Umsetzung klaffen auseinander. Im Kontext von Behinderung muss stellenweise sogar von einem „Aussortieren“ aus Regelschulen bzw. „Ein- sortieren“ in Förderschulen dieser Schüler*innen gesprochen werden, was in Zusammen- hang mit einer pädagogischen Orientierung an der jeweils der Schule zugrunde liegenden Vorstellung einer schulischen Normalmatrix zu stehen scheint. Daraus resultierende (il-) legitime Fähigkeitszuschreibungen durch Lehrer*innen begrenzen Teilhabechancen und wirken gleichzeitig auf die Adressat*innen (vgl. Buchner, Pfahl 2017: 215, Pfahl 2012: 432f.). Die Wirkmächtigkeit dieser Zuschreibungen soll im Beitrag zentral stehen, indem vorge- stellt wird, was Jugendliche mit Sehbeeinträchtigung über Teilhabemöglichkeiten am Un- terricht in verschiedenen Schulformen erzählen. Neben den konkreten Erfahrungen geht es zudem darum, wie die Jugendlichen die an sie gerichteten Adressierungen und die darin verwobenen ableist divides (vgl. Campbell 2003) weiterverhandeln, dekonstruieren oder reproduzieren. Ziel ist es, eine mögliche Antwort auf die Frage gegeben werden, welche Erkenntnisse aus dem Vergleich verschiedener Erzählungen von Akteur*innen mit Beein- trächtigung zu Teilhabeprozessen gewonnen werden können. Dies geschieht aus Basis der Datenauswertung eines laufenden Promotionsprojekts, das u. a. auf Prozesse schulischer Behinderung (Powell 2007, S. 321) und damit sich eröffnende oder begrenzende Teilhabe- chancen fokussiert.
Strukturelle Kontextfaktoren und ihre exkludierenden Wechselwirkungen – Frauen mit Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis in der beruflichen Rehabilitation
Prof. Dr. Judith Ommert, IUBH Frankfurt
Der geplante Vortrag beschäftigt sich mit den zentralen Ergebnissen meiner Dissertation, die sich mit bedeutenden Kontextfaktoren (ICF) und deren Wechselwirkungen für Frauen mit Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis im Teilhabebereich Arbeit und Beschäftigung auseinandersetzte. Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde ein komplexes Mixed-Methods-Design gewählt:
- Identifizierung eines Personenkreises, dem häufig Leistungen zur Teilhabe an Arbeitsleben verschlossen bleiben (Frauen mit Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis) auf Basis einer quantitativen Datenauswertung
- 15 Problemzentrierte Interviews mit Frauen mit Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis in hessischen RPK-und BTZ-Institutionen
- Fragebogenerhebung zum subjektiven Sinnverstehen der eigenen Psychose
- 5 Gruppendiskussionen mit Praxisexpert*innen aus hessischen RPK- und BTZ- Institutionen
Auf Basis der empirischen Ergebnisse konnten fünf Kontextfaktoren mit zahlreichen Unter- kategorien identifiziert werden: „berufliche Vorgeschichte“, „sozialer Nahraum“, „störungs- spezifische Einstellungen und Erfahrungen“, „Rehabilitationssystem“ und „Perspektiven“. In einem weiteren interpretativen Analyseschritt wurde herausgearbeitet, in welchen Situa- tionen die einzelnen Kontextfaktoren auf den Teilhabebereich Arbeit und Beschäftigung förderlich und/oder hinderlich wirken. Aus dieser Analyse ließen sich drei zentrale Kontext- faktorenbereiche ableiten: individuelle Kontextfaktoren, interaktionale Kontextfaktoren und strukturelle Kontextfaktoren. Der Fokus des Vortrags liegt auf den strukturellen Kon- textfaktoren und deren exkludierenden Wechselwirkungen, die Frauen mit Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis im Kontext der beruflichen Rehabilitation und daraus folgend im Teilhabebereich Arbeit und Beschäftigung erleben. Zudem soll auf Optimier- ungspotentiale eingegangen werden, die notwendig wären, damit die Teilhabe dieses Per- sonenkreises an Arbeit und Beschäftigung besser gelingen kann.
Barrieren an der Grenze zwischen Selbst und Umwelt Wie kann ein erneuertes Verständnis von Autismus zu einem Abbau von Barrieren in der inklusiven Beschulung beitragen?
Lukas Gerhards, Humboldt-Universität zu Berlin
Aus aktuellen neurologischen Forschungen lässt sich Autismus als eine Verschiebung der sensorischen Grenze zwischen Selbst und Umwelt beschreiben. Im Kontext der inklusiven Beschulung von Schüler*innen im Autismus Spektrum spielt dieses aktualisierte Verständnis der Neurodivergenz eine entscheidende Rolle. Daher sollen im ersten Teil des Vortrags neurologische, psychologische, sowie (neuro-)philosophische Perspektiven, aus denen dieses aktualisierte Verständnis abgeleitet werden kann, dargestellt werden. Dem Begriff der Grenze kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Hier treffen und ergänzen sich die verschiedenen Perspektiven. Davon ausgehend leiten sich bezüglich der inklusiven Beschulung von Autist*innen einige Forschungsfelder ab. Auf zwei von diesen fokussiert sich meine Promotion und sollen in dem Beitrag vorgestellt werden: Zum einen soll der Prozess des Stimmings – auch repetitive Verhaltensweisen genannt – näher betrachtet werden, da es sich hier um einen Vorgang an der zuvor beschriebenen Grenze zwischen Selbst und Umwelt handelt. Im Kontext der Beschulung von autistischen Schüler*innen könnte hier ein entscheidender Faktor zu erkennen sein, welcher zum Abbau von Barrieren genutzt werden kann. Zum anderen geht mit einer stärkeren sensorischen Aktivierung von Autist*innen (als Konsequenz aus der verschobenen Grenze zwischen Selbst und Umwelt), eine stärkere Anfälligkeit für sensorische und soziale Barrieren einher. Daraus entwickelt sich ein erhöhter Bedarf diese Barrieren zu identifizieren, um diese abzubauen. Im letzten Teil des Beitrags werden die methodischen Herangehensweisen an diese Themenfelder erläutert, um abschließend erste Erkenntnisse aus der Forschung zu präsentieren.
Zur Bedeutung barrierefreier Beratungsangebote – unter welchen Voraussetzungen kann niedrigschwellige Beratung gelingen?
Leonora Micah Jordan, Universität Kassel
Beratung als Form professioneller Intervention findet Anwendung u.a. in gesundheitsberuf- lichen, pflegerischen, psychosozialen, pädagogischen und therapeutischen Arbeitsfeldern in variantenreichen Ausrichtungen, Ansätzen und Konzepten (vgl. Engel, Nestmann & Sicken- dieck 2014, S. 34). Mit der bundesweiten Einführung von niedrigschwelligen Beratungs- angeboten der ‚Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung‘ seit 2018, erfährt nicht nur der Ansatz des Peer Counseling mit dieser Professionalisierung eine Transformation, son- dern auch Bedarf und Voraussetzungen barrierefreier Beratungsangebote werden disku- tiert. Beratung stellt eine der ältesten Kommunikationsformen der Menschheit dar – sowohl in ihrer transitiven Form des jemanden Beratens, als auch der reflexiven Form des Beraten- werdens. Ausgehend vom Empowermentansatz der Selbsthilfebewegung wird seit den 1980er Jahren in Deutschland Peer Counseling angeboten, eine Beratungsform von und für Menschen mit Behinderungen / chronischen Erkrankungen: gestaltungsoffen, partizipativ, gender- und diversitysensibel, basierend auf berufsbiografischer und/oder akademischer Bildung (vgl. Hermes & Horman 2017, S. 16 f). Doch was braucht es, um niedrigschwellige Beratung anbieten zu können? Welche Barrieren bilden Hindernisse, die das Erreichen von Beratungsangeboten erschweren? Diese und weitere Aspekte, die zur Ausgestaltung nied- rigschwelliger Beratungsangebote – auch im Feld von Organisationsentwicklung und -management – von Bedeutung sind, werden in diesem Beitrag aufgezeigt und diskutiert. Es werden Faktoren inhaltlicher, räumlicher, sozialer und zeitlicher Zugänglichkeit benannt, die in Konzeptualisierung und Umsetzung barrierefreier Beratung in unterschiedlichen Beratungskontexten Anwendung finden können.